Ausnahmezustand!
Im aufgewirbelten Staub der Strasse verschwindet die unauffällige, schmuddelige Grenze rasch im Rückspiegel und die Welt um uns herum verändert sich auf ein Neues.
Es wird zunehmend erdrückend heißer, die Luft ist durchsetzt von Schmutzpartikeln, eine Herausforderung für jede gesunde Lunge. Der löchrige Teer unter unseren 4 Rädern bevölkert von Hundertschaften Männern, Frauen, Kindern, Kühen, räudigen Kötern, jeglicher Art von Fortbewegungsmittel, Müll in allen vorstellbaren Variationen. Nun hat uns das Schicksal also doch noch bis hierher geführt…Willkommen im Indien des Jahres 2012.

Beim Anblick des Geschehens vorderhalb der Windschutzscheibe bewegt sich mein Gefühlszustand auf einer Skala zwischen Abscheu und Faszination, doch bereits beim nächsten markerschütternden Gehupe eines uns auf derselben Fahrbahn entgegenkommenden „Tatas“ (Lastkraftwagen indischen Fabrikats) siegt die sich empörende Autofahrerseele gegen das ohnmächtige „Kind“ in mir und es geht besser.

Wir wagen es kaum zu hoffen, aber irgendwann reißt das anfängliche Stadtgetümmel ab und ein gar nicht so unvertrautes Landschaftsidyll entblättert sich vor unseren Augen. Einfache Dörfer und Felder so weit man schauen kann. Frauen in bunt leuchtenden Gewändern mit klirrenden Armreifen um die Handgelenke hocken inmitten der Felder und ernten goldgelben Weizen mit kleinen Handsicheln. Dazwischen Senfpflanzen und Brachland, fast kein Baum weit und breit nimmt einem die Sicht. Nur hin und wieder lenken hohe, rauchende Schlöte von Hochöfen, in denen Lehmziegel gebrannt werden von der flachen Ebene ab.

Die Dörfer, durch deren Häuser die Straße hier direkt zu führen scheint, wecken Erinnerungen an Südostasien. Die Menschen leben in kleinen Lehmhäusern mit Strohdächern, Schweine, Wasserbüffel, Kühe, Hausrat drum herum verteilt, antike Trinkwasserpumpen und davor ein allgegenwärtiges, düsteres Rinnsal, das die Fäkalien von Mensch und Tier…verteilt.
In Holzbaracken dazwischen locken glitzernde Etiketten auf Spirituosen und Süßwerk Konsumwillige an. Die Welt vieler wild aussehender Kinder am Straßenrand ist klein. Auf ein paar Metern zwischen Asphalt und Eingangstüren spielen sie mit allem, was ihnen täglich zufällt. Plastiktüten, Stöckchen, alte Reifen,…und hinter jeder weiteren Kreuzung, jeder weiteren Straßenecke erwarten einen wieder andere, ungeahnte, faszinierende Ansichten.

Dort, wo die übergewichtigen Lkws halten wird von Früh bis Spät in großen dampfenden Kochtöpfen nach Wolfgangs Meinung das beste „Thali“ (Vegetarische Mahlzeit, meist Reis, Linsen, Gemüse, Brot, Joghurt) angeboten.
Heute fühle ich mich noch nicht bereit in einem der mit Staub überzogenen Freiluft-Essstuben einzukehren, aber wer weiß, vielleicht ja morgen.

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